Residence NRW⁺ ist ein 2020 gestartetes Stipendienprogramm zur Förderung des besonders begabten Nachwuchses im Feld der bildenden Gegenwartskunst das 2024 erstmals in Zusammenarbeit mit dem Museum Goch stattfindet. Das Programm ist der Kunsthalle Münster angegliedert und richtet sich an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Kuratorinnen und Kuratoren mit Bezug zum Bundesland Nordrhein-Westfalen sowie an Kuratoren und Kuratorinnen aus der Schweiz. Mit seinem Begleitprogramm bietet Residence NRW⁺ die bestmöglichen Bedingungen für die Weiterentwicklung im jeweiligen Arbeitsfeld. Grundlage des Programms sind die Residenzstipendien, die seit über 40 Jahren durch das Kulturministerium des Landes NRW und die Kunststiftung NRW sowie seit 2020 durch die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia vergeben werden.

Die Kuratoren
2024 Roger Rohrbach (D) und Simon Wüsten Marin (CH)

Die Künstler
Nicl Barbro, Aleksandra Belic, Ja Jess, Edgar Unger

Weitere Informationen: www.residencenrw.de

Roger Rohrbach (geb. in Wanne-Eickel) hat Kunstgeschichte und Germanistik in Bochum, Düsseldorf und Graz studiert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kunstmuseum Gelsenkirchen.
Als Kurator hat er unter anderem Ausstellungen im Kunsthaus Oberhausen, Kunstverein Hattingen, Museum Ludwig Koblenz, der Bochum Biennale und im Neuen Kunstverein Mittelrhein realisiert. 2022 erhielt er das Kuratorenstipendium des Landes Rheinland-Pfalz, 2023 das Recherche-Stipendium der Stadt Gelsenkirchen sowie den Kuratorenförderpreis der Stadt Köln. Aktuell freie Arbeit an kuratorischen Projekten und Publikationen.
Roger Rohrbach lebt und arbeitet in der Metropole Ruhr. (1.4.-30.9.2024)

Simon Würsten Marin (geb. 1991 in Lausanne, CH) ist Kunsthistoriker, Kurator, Autor und Dozent. Er lebt zwischen Lausanne und Zürich. Er ist in den bildenden und performativen Künsten tätig und interessiert sich für die künstlerische Rezeption der Gegenkultur zwischen den 1970er Jahren und heute.
Seit 2013 hat er Ausstellungen und Projekte kuratiert, u.a. im MCBA, Lausanne (2023); Arsenic, Lausanne with Imbricated Real (2022); Kunsthaus Zurich (2021); Last Tango, Shedhalle and Tanzhaus Zurich (2021); Haus, Vienna (2020); UV, Buenos Aires (2019); SALTS, Basel (2019); Display, Berlin (2018); DOC!, Paris (2018). Seine kunstkritischen Texte wurden in Schweizer und internationalen Magazinen veröffentlicht, wie CURA, Nero, Kunstbulletin oder Art Basel Stories. Derzeit arbeitet er als Gastdozent am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich und bereitet eine Ausstellung in der Fundación Klemm, Buenos Aires, in Zusammenarbeit mit der Penn University in Philadelphia vor. Zuvor arbeitete er als Kurator für die foodculture days Biennale, als kuratorischer und wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel und als Projektleiter bei der Art Basel. (1.4.-30.9.2024)

Annegret Soltau: ZeitErfahrung

Annegret Soltaus Geschichte erinnert an die Geschichten jener vielen Kinder, die kurz nach dem Krieg ohne Mutter oder Vater aufwachsen mussten und doch unterscheidet sie sich von ihnen. Im Januar 1946 in Lüneburg geboren, als der Krieg bereits vorbei war, wuchs sie als uneheliches Kind vorwiegend bei ihrer Großmutter in der Elbmarsch bei Hamburg auf. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war stets angespannt und von Enttäuschungen geprägt. Schon früh bekam die heute 77-jährige zu spüren, dass sie ein ungewolltes Kind war.  Und wie so oft sprach man nicht, über was geschehen war und doch trieb sie zeitlebens die Frage um: Wer ist mein Vater?

Wie soll man einen Menschen finden, über den kaum jemand etwas weiß und den man nie getroffen hat? Schon sehr lange hat sich die seit 1973 In Darmstadt lebende Künstlerin mit der Suche nach ihrem Vater und der Geschichte ihrer Eltern beschäftigt. Hierfür schrieb sie Archive an, wandte sich an Suchdienste, versuchte Menschen aus ihrem näheren Umfeld Informationen zu entlocken und vertraute in jüngster Vergangenheit auch auf die DNA-Analyse. 

2003 entschied sie sich das gesammelte Material in einer Werkserie zu verarbeiten, die bis heute fortgeführt wird. Die Chancen, nach fast 80 Jahren, noch konkrete Hinweise über sein Schicksal zu bekommen sind verschwindend gering und doch macht die Künstlerin immer weiter, getrieben von der Sehnsucht nach Antworten.

„Als Ausgangsmaterial für meine künstlerische Arbeit verwende ich die Dokumente meiner jahrelangen, erfolglosen Suche nach meinem verschollenen Vater. Die Arbeit besteht aus 69 Selbstportraits. In mein Gesicht habe ich die Original-Briefe der Behörden z.B. Rotes Kreuz, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. oder Deutsche Dienststelle für Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht eingenäht. Somit wird meinen Selbstportraits die ungelöste Schicksalsgeschichte infolge des 2. Weltkrieges förmlich ins Gesicht geschrieben, aber diese förmlichen Antwortschreiben bleiben wie eine leere Stelle in meinem Gesicht, wie ein weißer Fleck,“soweit die Künstlerin.

Annegret Soltau gehört heute zu den bedeutendsten feministischen Künstlerinnen ihrer Generation. Sie beschäftigt sich seit den 1970er Jahren mit Fragen der persönlichen und sozialen Identität und reflektiert dabei ihre Position als Frau im Konstrukt ihrer eigenen Familie. Besonders ihre monströs wirkenden, aus Einzelteilen vernähten Körper zeigen uns, wie sehr Soltaus Werke in ihrer Vergangenheit erlebte Vorstellungen von Verletzung und Heilung thematisieren. Dabei schuf die Künstlerin Arbeiten, die immer auch provozierten und gesellschaftliche Fragestellungen vorwegnahmen. Ob ihre expliziten Werkserien zum Thema Schwangerschaft und Geburt, die Einbindung ihrer pubertierenden Tochter in ihre Projekte oder die Schaffung von Körpervernähungen, die sich bewusst über die Frage nach eindeutiger geschlechtlicher Identität hinwegsetzen, antizipierten so manche Debatte und positionierten ihr kontrovers aufgefasstes Werk stets abseits vom Mainstream. Das bis heute auch auf internationaler Ebene steigende Interesse für ihr Werk, zeugt von der ungebrochenen Aktualität der von ihr bearbeiteten Inhalte.